Julia

 

Magersucht

Mein Name ist Julia, ich bin 36 und seit 18 Jahren magersüchtig. Mein halbes Leben.

Begonnen hat es tatsächlich mit einer Magersucht, ein Jahr vor dem Abitur. Ich hatte Angst, das heimische Nest verlassen zu müssen, Angst vor dem Leben, vor der Welt da draußen. Und so habe ich aufgehört zu essen, das heißt ich wurde immer weniger, 16 Kilo waren es in einem Jahr.

 

Es folgten unzählige Therapien, Klinikaufenthalte und Versuche, gesund zu werden, zuzunehmen. Gleichzeitig habe ich sehr erfolgreich ein Studium abgeschlossen, in den verschiedensten Berufsfeldern gearbeitet, meinen Mann kennen - und lieben gelernt und schließlich geheiratet.

 

Führe ich also eigentlich zwei Leben? Eines nach außen hin, in dem ich souverän auftrete, meine Pflicht erfülle und so tue, als wäre alles in Ordnung? In dem die Themen "Sucht" oder "Krankheit" keine Rolle spielen sollen, wo ich versuche, zu verdrängen, zu verstecken und Normalität vorgebe. Würde man mir mein extremes Untergewicht nicht ansehen, wäre ich damit wohl ziemlich erfolgreich. Und dennoch ist es ein Leben voller Lügen. Ich hasse es, zu lügen, mich selbst zu belügen oder andere. "Die Wahrheit macht euch frei", heißt es. Ja, in meinem privaten Umfeld kann ich zum Glück offen mit meinen Problemen umgehen. Ehrlich sein.

 

Es ist ein Kampf. Jeden Tag. Bei dem Wunsch abzunehmen, ist es nicht geblieben. Nach so vielen Jahren habe ich wirklich nur mehr den Wunsch gesund zu werden, gesund zu sein, zuzunehmen. Nach einer schweren Darmerkrankung habe ich weiter an Gewicht verloren, und mittlerweile kann ich kaum noch essen, ohne danach Schmerzen zu haben. So wird jede Mahlzeit zur Qual. Essen gehen oder Einladungen sind fast unmöglich geworden, und vom Genießen kann schon lange keine Rede mehr sein. Essen tut weh.

Dabei möchte ich zunehmen. Ich weiß nur nicht, wie. Manchmal bin ich richtig verzweifelt, und das Schlimmste sind die Schuldgefühle, das schlechte Gewissen. Meiner Familie gegenüber, meinem Mann.

 

Ich will nicht sterben, ich habe Angst. Angst, dass es irgendwann zu spät ist, und dass ich bereue. Ich verstehe es selbst nicht, verstehe mich selbst nicht. Wie es so weit gekommen ist. Ich kann nur sagen: es war nie böse Absicht, ich konnte nicht anders.

Die Krankheit wurde zu einer Krücke, und ist jetzt selbstverständlich da. Immer.

 

Zu jeder Tages- und Nachtzeit. Ich wünschte, ich könnte "es" abstellen, mich überwinden, die Angst vor dem Essen, vor den Schmerzen besiegen.

Ich hoffe auf ein Wunder. Ich bin selber schuld. "Nur Du kannst es ändern", diesen Satz höre ich fast täglich. Wenn es nur so einfach wäre. Es ist schlimm, hart. Die Blicke der Menschen, der Vorwurf in ihren Gesichtern.

Das Getuschel hinter dem Rücken. Es gab Zeiten, da wünschte ich, ich hätte eine andere Krankheit, eine die "von außen" kommt. Bei Sucht bist du immer selber schuld. Bei jeder anderen Krankheit haben die Leute Mitgefühl und Verständnis, bei einer Sucht verachten sie dich.

 

Ich will so nicht leben, ich habe Angst, dass ich, wenn ich so weitermache, nicht mehr allzu lange leben werde. Dass mein Körper irgendwann zu schwach ist, und nicht mehr kann.

Im Moment funktioniere ich (noch) ganz gut, ich selbst und die meisten Menschen in meiner Umgebung sind erstaunt, wie ich meinen Alltag meistere. Aber wenn ich ehrlich bin, fühle ich mich unendlich müde und erschöpft.

 

Oft will ich weg, an einen anderen Ort, und erhoffe, dass es mir dort dann besser geht. Aber ich weiß, die Krankheit reist immer mit, sie ist immer dabei, und wie gerne würde ich sie einfach hier lassen! Begraben, verabschieden, loslassen. Sie kann gehen, sie darf gehen, all die Ängste, das wäre mein größter Wunsch: eines Tages aufzuwachen und mit Genuss und Appetit zu frühstücken. Ohne Zwangsgedanken und ohne Ängste. Ganz einfach: Frei sein.